von Dipl. Psych. Kai Tschanter, Karlstadt – 

„Als ich diese Schritte vor der Tür hörte, geriet ich in Panik“, berichtet ein junger Mann.“ Keine Ahnung warum. Vom Kopf her wusste ich, dass das albern war. Es war nur mein Vermieter, ein harmloser, netter Mensch. Und dennoch diese Angst, Herzrasen, Unruhe, ich war neben der Spur, lief auf und ab. Erst als die Schritte wieder weg waren, konnte auch ich mich wieder beruhigen. Als ich später aufgefordert wurde, diese Angst näher zu untersuchen, wurde mir klar, dass mein zentraler Gedanke war: „Jetzt kommen sie mich holen!“ – Eine Form der Angst, die sich als Deportationsangst bezeichnen lässt. Typische Auslöser sind schwere Stiefel, polternde Schritte auf der Treppe, heftiges Klopfen an Türen, laute befehlende Stimmen, Stimmen aus Lautsprechern.

Angst ist ein Reaktionsmuster auf Gefahrensituationen, das den Organismus aktiviert und der Bewältigung dieser Situation dient, sei es z.B. durch Flucht oder Vermeidung. Doch was, wenn sich weder in der Gegenwart noch in der Kindheits- und Lebensgeschichte ein sinnvoller Bezug zu Gefahrensituationen finden lässt? Dann bleibt das Angstgeschehen rätselhaft. Es sei denn, es liegt der Angst eine Erinnerung an eine echte Gefahrensituation in einem früheren Leben zugrunde, wie die Deportation in dem genannten Beispiel. Ein neuer Blickwinkel liefert einen Schlüssel zum Verstehen dieser heftigen Gefühle auf harmlose Auslöser. Angstbezogene Körperreaktionen und deren Auslöser sind bei vielen betroffenen Menschen gleich, aber die „Geschichte hinter der Geschichte“ (Roger Woolger), die zu dieser Angst führt, ist individuell. Doch wie findet man diese Geschichten? Früher war Hypnose erforderlich, auch wenn moderne Rückführungstherapie, wie die von Hans ten Dam, längst ohne Tranceinduktion auskommt. Doch es gibt auch anthroposophische Zugangswege…

Coenraad van Houten (geb. 1922) hat das Lernen des erwachsenen Menschen lebenslang studiert und bahnbrechend erneuert. Auf der Basis einer neuen Urteilsfähigkeit und Willenserweckung hat er im „Lernen vom Schicksal“ Wege eröffnet, die es ermöglichen, die Schicksalszusammenhänge eigener Lebensereignisse in Kleingruppen zu untersuchen. In einer Forschungsgruppe der New Adult Learning Movement (NALM e.V.) zur „Heilenden Begegnung“ lernte ich als langjähriger Schüler und Forschungskollege von Coenraad van Houten die Fortführung dieser Ansätze im „karmischen Gespräch“ kennen, welches ich für mich so weiter entwickelte, dass ich es erfolgreich in meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis anwenden konnte.

Das karmische Gespräch benötigt zunächst einen leeren, offenen Begegnungsraum jenseits von Rollen und Vorüberlegungen. Über Empathie und Echtheit hinaus ist das innere und äußere Wahrnehmen wichtig: Eine schwer depressive Patientin sagt „In der Psychiatrie war es wie bei der Inquisition“. Ein suizidaler Geschäftsmann „hat wieder für eine verlorene Sache gekämpft“ (wie im letzten Krieg !?). Ein Ehemann „kennt im Streit keine Gnade“ (schottischer Elitekrieger). Hier geht es vor allem darum, mit dem „Schicksalsohr“ auf die Sprache des Schicksals zu hören, die durch das Gesagte hindurch klingt, nicht nur in dem was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird. Und so bei der Suche nach der Schicksalsgeste in einer wachen rhythmischen Bewegung zwischen der Wahrnehmung des Gegenübers und dem Erleben des eigenen Innenraums zu bleiben, mit auftauchenden Bildern, Gefühlen, Impulsen. Beide Gesprächspartner hören auf ihre innere Stimme, vertrauen ihrem intuitiven Gefühl der Stimmigkeit, der Evidenz, das sich einstellt, wenn man nicht spekuliert oder denkt, sondern mit Wesenhaftem, Wirklichem in Berührung kommt. Bis zumindest eine Ahnung auftaucht über den nächsten tastenden Schritt ins Ungesicherte an der Schwelle. Auch um freie kreative Handlungen zu finden, die das alte Muster verwandeln können.
Erste Ergebnisse meiner Schicksalsforschung zu Angststörungen möchte ich nun vorstellen:

Echogefühle (traumatische Todeserlebnisse)

Bei den sog. spezifischen Phobien tauchen ganz konkrete Ängste auf vor Wasser, Feuer, spitzen Gegenständen, Blut, Tunneln, großen Höhen, usw. Manchmal finden sich lebensgeschichtliche Zusammenhänge, z.B. jemand hat Angst vor Hunden, weil er als Kind mal von einem Hund gebissen wurde. Oft fehlen solche Zusammenhänge jedoch und die Angst bleibt rätselhaft. Erfahrungen aus der Erforschung früherer Leben zeigen, dass solche Angstinhalte mit den Begleitumständen eines gewaltsamen oder traumatischen Todeserlebnisses zu tun haben können, meist aus der letzten Inkarnation vor der jetzigen. Diese Angstform ist somit nicht an reale Ereignisse in der jetzigen Biografie gebunden, sondern alte Gedanken („Sie kommen mich holen!“), Gefühle oder Körpererinnerungen legen wie ein zweiter Film („Doppelbelichtung“) über die Gegenwart, wie ein Echo der früheren Gefühle. Die Auslösung der alten Todesängste ist dabei nicht „vermeidbarer Zufall“ ist, sondern dient der Verarbeitung der alten Erlebnisse, die nun bewusst verdaut werden können. Wenn ich Angst vor Wasser habe, weil ich im letzten Leben ertrunken bin, ermöglicht die erneute wiederholte Konfrontation mit Wasser auch der Überschreibung und Löschung der alten Ängste und Glaubenssätze (Postulate wie „Ich muss hier raus!“) durch neue positive Erlebnisse. Daher hilft hier auch die Verhaltenstherapie so gut. Ein Beispiel aus der Praxis ist auch die eingangs erwähnte Deportationsangst.

Schicksalshaft-biografische Ängste (ereignisbezogen)

Die Ängste dieser Kategorie sind mit realen Ereignissen und Herausforderungen aus der Biografie verbunden, ohne in ihrer Intensität durch sie erklärbar zu sein. Sie sind gehören zum eigenen Lernweg, sind schicksalhaft geplant und mit eigenen (Neu-) Entscheidungen verbunden. Es bietet sich hier die Gelegenheit, das „Gleiche diesmal anders zu tun“, wie Coenraad van Houten sagen würde.

Eine Studentin kommt wegen Prüfungsangst in Verbindung mit einer Lernblockade. Wenn sie lernen will, wird sie müde, alle klaren Gedanken sind wie ausgewischt. Zur Prüfung traut sie sich nicht hin. Erstaunlicherweise hat sie bisher alle Prüfungen bestanden (unsichtbare Helfer?). Wir schauen eine Prüfungssituation an, um die Schicksalsgeste zu finden. Wovor hat sie Angst? Überraschenderweise ist es nicht die Angst zu versagen, sondern im Gegenteil: die Prüfung bestehen bedeutet für sie: (wieder) mächtig sein, (wieder) führen müssen. In der symbolischen Verdichtung finden wir ein ägyptisches Einweihungsszenario in Verbindung mit einer Besetzung durch eine dunkle Macht. Diese Macht hat ihr bis heute durch die Prüfungen geholfen, aber ihr eigenes Ich, ihr eigenes Denken blockiert. Erst die Ablösung dieser alten Verbindung ermöglicht es ihr, (erstmals) selbst zu lernen. Am Ende der längeren Therapie entscheidet sie sich sogar, ihr Studienfach zu wechseln, die Ichkräfte sind wieder frei. Häufig beinhaltet die Schicksalsgeste bei Prüfungsängsten die Erfahrung, einem fremden Urteil ohnmächtig ausgeliefert zu sein (vgl. Hexenprozesse).

Beziehungsgebundene Ängste (karmische Verstrickungen)

Manche Ängste tauchen nur in der Beziehung zu ganz bestimmten Personen auf, sonst nicht. Besonders häufig sind hier: Verlustängste, d.h. den Partner, das Kind (wieder) zu verlieren (wie damals), oder Autoritätsängste, d.h. dem Vorgesetzten (wieder) so ausgeliefert zu sein (wie damals). Wir begegnen bestimmten Personen in wichtigen Abschnitten unseres Lebens wieder, wenn noch unverdaute Gefühle im „astralen Beziehungsspeicher“ vorhanden sind, die gelöst (erlöst) werden möchten. Besonders eindrucksvolle Beispiele hierfür habe ich in den von mir so genannten „klebrigen Scheinbeziehungen“ gefunden, wenn sich ein Partner im letzten (relevanten) Leben umgebracht hat. Zwei Menschen begegnen sich hier wieder und erleben heftigste Gefühle wie Hass, Eifersucht oder Verlustangst, ohne dass ein einziger Kuss stattgefunden hat. Sie können keine Beziehung eingehen, kommen aber auch nicht voneinander los, fühlen sich unfrei. Sie treffen sich, um sich endlich voneinander zu lösen.

Übernommene Ängste (Anhaftungen)

Ist meine Angst überhaupt MEINE Angst? Eine durchaus berechtigte Frage. Im pränatalen Zustand fühlt sich das ungeborene Kind eins mit der Mutter und übernimmt manchmal deren Ängste, z.B. es nicht auszuhalten oder es nicht zu schaffen. In Krankenhäusern können krankheitsbezogene Ängste oder Todeserlebnisse von Verstorbenen übernommen werden, z.B. während einer Vollnarkose. Eine junge Frau berichtet von großer Lebensangst, diese sei wie ein Stein auf der Brust und hindere sie daran, das Haus zu verlassen oder eine Arbeit aufzunehmen. Sie fühlt in diese Angst hinein, es ist die Angst zu sterben. Im Prozess tauchen ihre beiden Großväter sowie der Vater ihrer besten Freundin auf, die alle an Herzinfarkt gestorben sind. Zudem zwei Mitschüler, die sich zusammen das Leben genommen haben. Nachdem die Zusammenhänge klar sind und die Ängste auf der inneren Bildebene „zurückgegeben“ werden, verschwindet die Angst der Klientin nach dieser einen Sitzung vollständig.

Diese ersten Anregungen zu Schicksalsformen der Angst sind Ergebnis kreativer geistiger Forschung, wie Coenraad van Houten seinen dritten Weg des Erwachsenenlernens genannt hat. Wenn man beginnt, Schicksalsfragen in die Psychotherapie miteinzubeziehen, kann vieles „karmalogisch“ neu durchdacht werden, im Hinblick auf Ursachenforschung und neue Heilungsimpulse. Denn seelische Erkrankungen sind weiter auf dem Vormarsch und die Zeit des Schwellenübergangs fordert uns alle heraus. „Die Begegnung heilt das Karma“, sagt Coen. „Doch in der Zukunft folgt die Heilung keinen Regeln mehr. Sie braucht menschliche Kreativität, die es wagt, aus dem Nichts heraus Neues zu schaffen“.

Der Autor

Kai Tschanter ist Tasso Deutschland Dozent und langjähriger Forschungskollege von Coenraad van Houten.

Kai Tschanter
Kai TschanterTasso-Dozent
Kai Tschanter sammelte nach seinem Diplom in Psychologie an der Universität Würzburg (1995) zunächst ausgiebig Erfahrungen in der Humanistischen Psychotherapie als Gruppentherapeut in Psychosomatischen Kliniken (Adula, Heiligenfeld). In dieser Zeit schloss er eine Familientherapieausbildung in München ab (IFW) und erhielt die Approbation in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Es folgten mehrjährige Leitungsstellen in einer Kriseninterventionseinrichtung und in den Heiligenfeldkliniken, wobei er sich dort mehr der transpersonalen Psychotherapie zuwandte. Langjähriger Forschungskollege von Coen van Houten, Entwicklung neuer Ansätze in der karmischen Biografiearbeit. Veröffentlichung von Artikeln zur Schicksalsforschung. Erste Ausbildung als Rückführungsleiter bei Jan Erik Sigdell, es folgte 2013 die Ausbildung zum Transpersonalen Regressionstherapeut bei Hans TenDam und Marion Boon (Tasso international). Zertifiziertes Mitglied bei EARTh. Niedergelassen in eigener Praxis in Karlstadt (Kassenpraxis TP) und Würzburg (Rückführungstherapie). Lehrtherapeut und Supervisor für zahlreiche tiefenpsychologische Ausbildungsinstitute.